"Ich habe nichts getan, wirklich"
Mit diesem nun folgenden Text werde ich einige Grundsätze dieser Rubrik einfach mal ignorieren. Aber das aus einem guten Grund.
Normalerweise werden hier ausschließlich Filme besprochen. Normalerweise versuche ich, Filme rauszusuchen, die nicht im Fokus von jedermann stehen und nicht unbedingt dem Mainstream entsprechen. Heute geht’s um eine Serie, die gefühlt schon jeder gesehen hat. Laut Netflix ist es sogar die meistgestreamte Serie aller Zeiten. Somit bin ich schon etwas „late to the party“.
Ich muss heute aber einfach unbedingt noch meinen Senf zu Adolescene dazugeben. Denn: Diese Miniserie ist das Beste, was ich seit Chernobyl zu Gesicht bekommen habe. Ich war sowas von investiert in diese gut vier Stunden. Jede Sekunde ist fantastisch.
Die Fakten: Erscheinungsdatum: 2025, Genre: Miniserie / Drama, Laufzeit: 4 x ca. 60 min, FSK: 12
Die Story: Eines Morgens holt ein Einsatzkommando den 13-jährigen Jamie aus seinem Kinderzimmer. Er soll eine Mitschülerin ermordet haben. Wir sehen, was das mit dem Jungen macht, mit seiner Familie – und vor allem, warum es dazu gekommen ist.
Als der Abspann der letzten Episode über meine Leinwand lief, war ich richtig geschafft. Die letzte Viertelstunde habe ich im Prinzip durchgehend mit den Tränen gekämpft. Adolescene schafft es, mich auf ganz vielen Ebenen zu berühren – und vor allem zum Nachdenken zu bringen. Alles an dieser Serie ist einfach außergewöhnlich gut. Das Schauspiel ist fantastisch und unglaublich intensiv, die Inszenierung ist sensationell, der Einsatz von Musik ist perfekt gesetzt, und vor allem: Die Dialoge sind großartig und – wie soll ich das formulieren? – angemessen.
Aber gehen wir diese Lobhudelei doch einfach chronologisch durch:
Episode 1:
Hier sehen wir, wie das Leben einer ganz normalen Familie von einer Sekunde auf die andere auseinanderbricht. Das Haus wird gestürmt, Jamie wird aus seinem Kinderzimmer direkt in die Zelle gebracht. Seine Familie ist hilflos, überfordert, und weiß gar nicht, was los ist. Im Laufe dieser ersten Folge erfahren wir als Zuschauer, was Jamie überhaupt vorgeworfen wird. Adolescene kommt völlig ohne Erklärungsdialoge aus. Wir erfahren alles aus dem Gezeigten. Da wir Jamie und seine Familie (vor allem den Vater) während dieses Morgens begleiten, wird der Zuschauer in die gleiche Lage wie die Protagonisten versetzt. Wir wissen, was sie wissen. Das ist packend, spannend, und man fühlt direkt mit. Es schleichen sich Gefühle wie Mitleid ein, bis zum dramatischen Finale. Eine großartige Episode.
Episode 2:
Eine absolute Besonderheit dieser Serie ist unter anderem die Erzählstruktur. In der zweiten Episode begleiten wir die Ermittler an die Schule von Jamie. Unser Hauptcharakter spielt hier keine aktive Rolle, obwohl sich selbstverständlich alles um ihn dreht. Wir lernen erste Hintergründe: Was passiert an einer Schule unter Jugendlichen? Sozialer Druck, Social Media, Mobbing, Frauenhass. Die „schwächste“ Folge – obwohl sie immer noch wirklich, wirklich gut ist. In der letzten Einstellung legt der Vater von Jamie Blumen am Tatort ab. Diese Ungläubigkeit in seinem Blick lässt einen tiefen Einblick in seine Gefühlswelt zu. Die komplette Aussparung des (mutmaßlichen) Täters ist absolut außergewöhnlich.
Episode 3:
Diese knapp 60 Minuten sind vielleicht die besten und packendsten, die je fürs TV produziert wurden. Ich saß permanent angespannt und mit offenem Mund vor der Leinwand. Wir sehen ein Gespräch. Nicht mehr, nicht weniger. Kein Knalleffekt, kein Bling-Bling drumherum. Die Gerichtspsychologin unterhält sich mit Jamie. Sie will wissen, ob er versteht, was ihm vorgeworfen wird, und versucht, Hintergründe zu ergründen. Das Schauspiel dieser beiden ist so gut, dass ich zwischendurch vergessen habe, dass ich zu Hause vorm Bildschirm sitze – ich war wie gebannt. Was der Junge hier schauspielerisch leistet, ist nicht zu glauben. Die Kamera kreist um die beiden. Gefühlsausbrüche kommen plötzlich und in Wellen. Die gesamte Episode spielt in einem kargen Raum einer geschlossenen Anstalt. Dieses Setting verwandelt Adolescene in die intensivsten und spannendsten 60 Minuten der Seriengeschichte. Diese Folge ist ein absolutes Meisterwerk – auf allen Ebenen.
Episode 4:
Der im wahrsten Sinne des Wortes emotionale Höhepunkt der Serie. Inhaltlich und inszenatorisch ist wahrscheinlich die dritte Folge stärker, aber diese hier hat mich gebrochen. Hier wird gezeigt, wie es der Familie ergangen ist. Womit die Eltern und die Schwester leben müssen. Ich bin ja selber Vater – und zu sehen, wie dieser Mann daran zerbricht und zugrunde geht, hat mich echt getroffen. Ich sag’s, wie es ist: Die letzten 15 Minuten habe ich durchgehend mit den Tränen gekämpft – und diesen Kampf irgendwann verloren. Wenn Mama und Papa nach der letzten Erkenntnis auf dem Bett sitzen, sich Vorwürfe machen und einfach keine Erklärung finden können. Das ist hart. Das Unerklärliche kann nicht erklärt werden. „Irgendwas ist schiefgelaufen.“
Der perfekte Abschluss einer nahezu perfekten Miniserie.
Ich möchte noch ein paar allgemeine Sachen ansprechen.
Zum einen habe ich noch gar nicht thematisiert, wie diese Folgen inszeniert wurden: Jede einzelne Folge läuft in nahezu Echtzeit. Jede Folge ist als One-Shot, also ohne Schnitt, gedreht. Was in anderen Formaten ein tolles und oft beeindruckendes Gimmick ist, wirkt hier so natürlich, dass man es gar nicht richtig merkt. Unglaublich gut.
Abschließend möchte ich auch noch den für mich einzigen Kritikpunkt ansprechen: Leider wird das Schicksal der Familie des Opfers nicht erwähnt. Hier hätte ich mir noch eine Episode gewünscht. Was aber definitiv ganz bewusst gewählt wurde, und was ich sehr stark und mutig finde: Jamie hat keine Rechtfertigung! Er lebt in einer guten Familie. Die Eltern sind keine Alkoholiker o. Ä., er wurde nicht geschlagen oder missbraucht. Eine Radikalisierung am Bildschirm, Frauenhass, Selbsthass, und Überforderung mit dem, was die moderne Welt für junge Menschen mit sich bringt. Ich habe anschließend lange darüber nachgedacht, wie man seine eigenen Kinder schützen kann. Wahrscheinlich gar nicht.
Ihr habt das Ganze wahrscheinlich alle schon gesehen – aber falls nicht: Bitte, bitte unbedingt nachholen!
Herzlichst Sebastian