That's what I love, seeing them lose everything - Kelly-Anne
Hier bei meinen Filmbesprechungen geht es ja bekanntlich fast ausschließlich um Filme für ein erwachsenes Publikum. Trotzdem möchte ich heute zu Beginn eine kleine Warnung aussprechen: Red Rooms behandelt Themen, die sicher nicht für jedermann geeignet sind. Nicht aufgrund der visuellen Darstellung (welche nahezu nicht vorhanden ist), sondern aufgrund der kalten und realistischen Beschreibung von Kindesmissbrauch, Vergewaltigung und Mord. Red Rooms betreibt keinerlei Effekthascherei, sondern versetzt den Zuschauer in eine unglaublich unangenehme, voyeuristische Position.
Was sicherlich für den einen oder anderen abschreckend sein dürfte, ist die große Stärke von Red Rooms. Wir – der Zuschauer – bekommen eine Protagonistin vorgesetzt, die wir bis zum Ende nicht genau verstehen können. Wir wissen nicht, was sie überhaupt möchte. Was ist ihre Agenda? Warum tut sie, was sie tut? Dies zu entschlüsseln und zu versuchen, zu verstehen, woher ihre Obsession stammt, zieht einen in den Film hinein – es entsteht auch beim Zuschauer eine Obsession für etwas, das absolut abstoßend und grausam ist. Dies ist sensationell: Wir werden mit dem konfrontiert, was wir uns gerade ansehen. Was als relativ konventioneller Gerichtsthriller beginnt, entwickelt sich zu einem wahrlichen Abstieg in die menschlichen Abgründe.
Die Fakten: Erscheinungsdatum: 2024, Genre: Psychothriller, Laufzeit: 118 min, FSK: 16
Die Story: Die junge Frau Kelly-Anne besucht jeden Tag die Gerichtsverhandlung des potenziellen Kindermörders Ludovic Chevalier. Sie scheint förmlich besessen von dem Mann zu sein, der drei Kinder brutal ermordet haben und Videos der Taten im Darknet zum Kauf angeboten haben soll. Die "Räume", in denen solche Dinge (auch in der Realität) angeboten werden, nennen sich "Red Rooms".
Red Rooms ist ein sehr kalter Film: viele entsättigte Farben, distanzierte Kameraarbeit. All dies unterstreicht die Thematik und auch die Obsession der Hauptfigur. Wir sehen keinen "normalen" Thriller, sondern eine komplexe Charakterstudie – einen Film über unsere Gesellschaft, besonders im digitalen Raum. Einen Raum, in dem vieles anonymisiert werden kann und unter Nicknames kommuniziert wird. Was sicher jeder von uns kennt, sind Dinge wie Beleidigungen oder Diffamierungen. Auch Hass und Hetze werden bekanntlich im Netz ziemlich offen verbreitet. Red Rooms geht allerdings noch drei Schritte weiter – in die Bereiche des Internets, die wir hoffentlich nicht kennen (die es aber zu geben scheint). Was Kelly-Anne in diesen Red Rooms sieht, entzieht sich sicher jeder Vorstellung – und glücklicherweise auch der Kamera des Films.
Kelly-Anne ist eine ambivalente Figur: Sie ist weder Ermittlerin noch klassische Antiheldin, sondern eine Art Voyeurin, die sich von dem Prozess und den Bildern der Opfer beinahe magisch angezogen fühlt. Ihre Motivation bleibt bewusst nebulös – sucht sie Gerechtigkeit, ist sie selbst ein potenzielles Opfer, oder genießt sie die Nähe zum Verbrechen? Diese Unklarheit macht den Film umso eindringlicher.
Ein zentrales Motiv ist die Macht des Bildes: Ob in Form von Überwachungsaufnahmen, Beweisfotos oder der Vorstellung der ominösen Videos im Darknet – Red Rooms spielt mit der Unsichtbarkeit des Schreckens und zeigt, dass das Wissen um Gewalt manchmal verstörender ist als die direkte Darstellung.
Dieser Film ist wirklich das Gegenteil von "Feel Good", aber er ist unglaublich intensiv und regt auf mehreren Ebenen zum Nachdenken an. Schaut euch diesen Film unbedingt an, wenn ihr in der passenden Stimmung seid. Meiner Meinung nach der beste Thriller 2024. Der Film ist spannend, und dass sich Red Rooms am Ende traut, nicht alle Fragen zu beantworten und uns die genauen Beweggründe von Kelly-Anne nicht erklärt werden, macht ihn umso wirkungsvoller.
Red Rooms ist ein filmisches Experiment, das uns zwingt, unsere eigene Faszination für Gewalt und True-Crime-Kultur zu hinterfragen. Ein intensiver, unbequemer Film, der lange nachhallt.
Herzlichst, Sebastian