"Ben, ich glaube das sollten wir nicht tun" - Ida
Wenn ein Film es schafft, gleichzeitig Sommerdrama, Kindheitsstudie, Gedankenexperiment und subtiler Horrorfilm zu sein, dann verdient das Aufmerksamkeit. The Innocents ist genau so ein Film – kühl, fast zurückhaltend, und doch faszinierend in seiner Wirkung. Er wirft große Fragen auf: Was ist eigentlich „das Böse“ – und wann beginnt es? Antworten gibt es keine einfachen. Stattdessen legt der Film diese Fragen in Kinderhände, und das Ergebnis schleicht sich langsam, aber unaufhaltsam in uns ein: Gewalt und Mitgefühl können im selben kindlichen Herzen wohnen.
The Innocents ist einer der seltenen Filme, die den dunklen Raum der kindlichen Psyche erkunden, ohne zu dämonisieren oder zu beschönigen. Statt Schwarz-Weiß-Malerei erleben wir eine fast klinisch präzise Beobachtung, wie fragile Seelen unter der Oberfläche des scheinbar harmlosen Alltags aufbrechen. Das hier ist brutaler Horror – ohne im klassischen Sinn ein Horrorfilm zu sein. Und es ist verstörend – ohne plump auf Verstörung zu setzen.
Die Fakten: Erscheinungsjahr: 2022, Genre: Drama / Horror / Mystery, Laufzeit: 117 Minuten, FSK: 16
Die Story: Die neunjährige Ida zieht mit ihren Eltern und ihrer älteren Schwester Anna, die stark autistisch ist, in eine ruhige Wohnsiedlung. Es ist Sommer. Die Tage sind lang, die Spielplätze leer, die Nachbarskinder fremd. Ida, ein stilles, neugieriges Mädchen, streift allein durch die neue Umgebung – und findet Anschluss. Doch einige ihrer neuen „Freunde“ besitzen seltsame, übernatürliche Fähigkeiten: Sie können Gedanken lesen, Dinge bewegen, mit anderen kommunizieren – jenseits der üblichen Regeln. Was zunächst wie ein aufregendes Geheimnis wirkt, entwickelt sich langsam, aber unausweichlich zum Albtraum.
Eskil Vogt – der schon mit Thelma (ebenfalls ein toller Film) eindrucksvoll bewiesen hat, dass sich nordischer Realismus und Mystery hervorragend vereinen lassen – geht hier noch einen Schritt weiter. Er inszeniert nicht nur aus der Perspektive der Kinder, sondern auch aus ihrer inneren Welt heraus. Erwachsene bleiben Randfiguren. Die Kamera sieht, hört und fühlt wie ein Kind – ruhig, beobachtend, niemals wertend. So entsteht ein moralisches Experiment, das unter die Haut geht.
Und Vogt macht es uns nicht leicht: The Innocents ist kein Gleichnis, kein Science-Fiction-Märchen, keine Parabel. Er ist – bei aller Übernatürlichkeit – zutiefst real. Die übernatürlichen Elemente sind kein Selbstzweck sondern eine Metapher. Sie machen das sichtbar, was im Verborgenen ohnehin da ist: Einsamkeit, Sprachlosigkeit, Eifersucht – und Macht.
Was diesen Film zusätzlich so intensiv macht, ist das außergewöhnliche Schauspiel der jungen Schauspieler*innen. Allen voran Rakel Lenora Fløttum als Ida: Ihre Darstellung changiert zwischen verletzlicher Neugier, stillem Zorn und wachsendem Verantwortungsgefühl. Sie spielt nicht – sie ist dieses Mädchen.
Der zentrale Konflikt kreist um eine beunruhigende Frage: Was passiert, wenn ein Kind über Macht verfügt – aber noch keine ethische Orientierung besitzt? Die Antwort ist weder beruhigend noch einfach. Denn The Innocents zeigt Kinder nicht als Opfer, aber auch nicht als Monster. Sondern als das, was sie sind: ambivalente Wesen. Fähig zu Mitgefühl und Grausamkeit, zu Empathie und Egoismus. Und genau hier liegt die Größe dieses Films: Er verklärt die Kindheit nicht – er nimmt sie ernst. Auf eine Weise, die unter die Haut geht.
The Innocents ist kein lauter Film. Kein Film der großen Gesten. Aber vielleicht gerade deshalb einer der eindrucksvollsten psychologischen Horrorfilme der letzten Jahre. Eskil Vogt gelingt ein Werk, das lange in euren Köpfen bleiben wird – und das uns Zuschauer zwingt, unser eigenes Verhältnis zu Kindheit, Moral und Macht zu hinterfragen.
Ein Film über Kinder. Aber ganz sicher kein Kinderfilm.
Herzlichst Sebastian