"Das ist gefährlich hier. Geh lieber durch die Unterführung da drüben" - Passant
Triggerwarnung:
Irreversibel enthält in der Mitte des Films eine extrem lange, extrem realistisch inszenierte Vergewaltigungsszene. Sie ist schwer zu ertragen, absolut verstörend und für viele Zuschauer schlicht nicht zumutbar. Dies soll keine Werbung für diesen Film sein, sondern bitte als ernst gemeinte Warnung verstanden werden.
Ich spiele schon länger mit dem Gedanken an dieser Stelle über den Ausnahmefilm Irreversibel zu sprechen. Es ist ein Film, den man eigentlich nicht empfehlen kann und schon gar nicht an eine anonyme Leserschaft. ABER meines Erachtens nach stehen wir hier vor einem der großen Meisterwerke der Neuzeit.
Ich habe in meinem Leben schon einiges an harten Filmen gesehen, aber dieser hier fühlt sich anders an. Er ist wie ein Schlag in die Magengrube, der dich erstmal auf den Boden zwingt. Und gleichzeitig ist er – so absurd das klingt – auch ein unglaublich intelligenter Film über Zeit, Schicksal und die Endgültigkeit von Entscheidungen.
Ja: wir haben hier eine der härtesten Szenen der Filmgeschichte. In der allgemeinen Diskussion wird dieser "Skandalfilm" meines Erachtens nach allerdings viel zu sehr darauf reduziert und die unbeschreibliche Wucht und erzählerische Brillanz oftmals vergessen.
Die Fakten; Erscheinungsjahr; 2002, Genre: Drama / Thriller, Laufzeit: 97min, FSK: 18
Die Story: Eigentlich ist es ein ganz normaler Abend in Paris. Alex und ihr Freund Marcus gehen gemeinsam mit Pierre, Alex’ Exfreund, auf eine Party. Doch auf dem Heimweg nimmt die Nacht eine brutale Wendung: Alex wird in einer Unterführung von einem Fremden überfallen und vergewaltigt. Als Marcus davon erfährt, macht er sich zusammen mit Pierre sofort auf die Suche nach dem Täter – getrieben von Rache und blankem Hass. Die Gewalt eskaliert, Leben werden zerstört.
Die große Besonderheit ist natürlich die Erzählweise: Irreversibel läuft rückwärts. Das heißt, wir beginnen am Ende, bei blanker Zerstörung, Rache und Chaos – und arbeiten uns Szene für Szene zurück bis zu einem fast schon idyllischen, unschuldigen Anfang. Diese Struktur ist mehr als nur ein Gimmick. Sie ist der Schlüssel zur Wirkung des Films. Denn was am Ende / Anfang wie purer Hass, Gewalt und animalisches Zerstören wirkt, bekommt nach und nach einen Kontext, eine Bedeutung. Und genau da liegt der Schmerz: Wir wissen, was noch kommt – die Figuren nicht.
Das Ende ist eigentlich ein Anfang, voller Wärme und Normalität. Alex liegt auf einer Wiese, liest ein Buch, die Kamera kreist, alles wirkt friedlich. Und wir, die Zuschauer, wissen: Dieses Glück wird zerstört, und zwar auf die schlimmstmögliche Weise. Dieser Kontrast ist unerträglich – und gleichzeitig brillant.
Natürlich muss ich, wenn ich mich dazu entscheide hier über Irreversibel zu sprechen, auch über die gezeigte Vergewaltigung sprechen. Ich persönlich habe auf filmischer Ebene (dies sei betont) tatsächlich keinerlei Probleme mit Gewalt. Im Gegenteil, wenn diese dem Film eine Ebene hinzufügt, dann bin ich sogar ein Freund von drastischen Darstellungen. Ich beschreibe hier nun einem in kurzen Worten meine erste Raktion während ich eben jene Szene in Irreversibel sah:
Mir liefen die Tränen. Das Leid dieser jungen, vollkommen wehrlosen Frau war für mich kaum auszuhalten.
Zehn Minuten lang, ohne Schnitt, ohne Musik, statische Kamera. Kein Entkommen – weder für die Figur noch für uns Zuschauer. Normalerweise oder eigentlich immer bietet uns Kino Auswege, die Distanz schaffen: schnelle Schnitte, eine musikalische Untermalung, eine Perspektive, die uns „schützt“, eine Überhöhung oder ein Abblenden. Noé nimmt all das vollständig weg. Man sitzt wie gelähmt, gefangen in der Szene. Viele brechen hier ab – und das ist nachvollziehbar, absolut. Man fühlt sich ohnmächtig, hilflos, wütend.
ABER genau das ist der Punkt: Wir sollen es nicht „aushalten“ können. Wir sollen die Unerträglichkeit spüren. Es ist -wie gesagt- eine der härtesten Szenen der Filmgeschichte – nicht nur wegen des Gezeigten, sondern vor allem wegen der gnadenlosen, nüchternen Art, wie es gezeigt wird. Dies ist in seiner filmischen Wirkung fantastisch und wahrlich einzigartig.
Was macht Irreversibel also so besonders? Es ist kein Film über Gewalt. Es ist ein Film über Zeit. Über das Unumkehrbare. Über Entscheidungen, die getroffen werden, und deren Folgen nicht mehr rückgängig zu machen sind. Der Titel ist Programm: Was geschehen ist, lässt sich nicht zurückdrehen – so sehr man es sich auch wünscht.
Gaspar Noé zeigt uns, wie brutal das Leben sein kann – und dass es keine Gnade gibt. Die Gewalt ist nicht ästhetisch, sie ist roh und ekelhaft. Der Film zwingt uns, nicht wegzusehen. Und am Ende – wenn die Kamera sich in kreisenden Bewegungen verliert und ein Stroboskop flimmert – bleibt die bittere Erkenntnis: Die Unschuld geht verloren, Zeit läuft immer nur vorwärts, und manche Wunden bleiben für immer offen.
Irreversibel ist kein Film, den man „empfiehlt“ – er ist keine Unterhaltung und erst recht kein Horrorfilm für einen netten Abend. Er ist eine Erfahrung, die weh tut. Aber genau darin liegt seine Größe: Gaspar Noé nutzt Kino nicht als Eskapismus, sondern als unbarmherzigen Spiegel. Irreversibel zeigt uns, wie brutal und unausweichlich das Leben sein kann – und dass die Zeit gnadenlos in eine Richtung läuft.
So schmerzhaft er ist: Irreversibel ist ein Meisterwerk. Ein Film, den man wahrscheinlich nur einmal im Leben sieht, den man aber nie wieder vergisst.
Herzlichst Sebastian